Auf der Zeil ohne Ziel
Frankfurt befindet sich in einer ungewöhnlichen Hitzewelle. Ich habe gerade den Palmengarten besucht, diesen interessanten botanischen Garten mit seinen exotischen und anderen Pflanzen. Ich habe den Tag alleine genossen und mich als Touristin gefühlt. Palmenbäume, niedrige Steppenpflanzen, Treibhäuser, in denen es heute nicht so heiß ist, da die Temperatur innen und außen gleich ist. Nur unter manchen sehr hohen Bäumen mit dicken Blättern fühle ich mich ein bisschen frisch. Ich habe eine Flasche Wasser mit.
Ich wundere mich über den riesigen Durchmesser eines Stückes von einem Baumstamm aus Kalifornien. Es gibt im Palmengarten eine Ecke, die der Mutter Goethes gewidmet ist. Sie hatte hier einen Apfelgarten. Heute gibt es eine Statue von ihr und von ihrem bekannten Sohn. Frankfurt ist Goethestadt. Schließlich, welche deutsche Stadt ist keine Goethestadt? Ich habe Weimar besucht, wo er gelebt hat und Jena, die er sich als die schönste aller deutschen Städte angesehen hat und Leipzig, wo er Stammgast war in Auerbachs Keller, einem Weinlokal.
Ja, mein Sinn ist abgeschweift.
Man kann für einen billigen Eintrittspreis den ganzen Tag im schönen Palmengarten bleiben. Viele Mütter bringen ihre Kinder hier her, um sie über Botanik zu unterrichten. Nein, das ist nicht der einzige Grund. Hier können Kinder auf einem Spielplatz andere Kinder treffen, und während heißer Tage wie heute ähnelt der Spielplatz einem Freibad mit vielen Brunnen, die den Kindern Spaß machen. Die Kinder spielen im Wasser, sie schreien und spritzen ihre kleinen Freunde nass.
Vor der Ausstellungshalle, draußen, auf einer Bank, sehe ich einen Mann mit einem langen Bart und langem Haar. Er ist der Künstler, der viele Werke mit Pflanzen und Dschungelmotiven gemalt hat. Auch verschiedene Skulpturen aus Metal, die so genannten Schattenskulpturen, sind überall in dem Garten zu sehen.
In der Halle gibt es auch Gewürze aus aller Welt, die man anfassen und riechen kann und über deren Geschichte man lesen kann. Sehr interessant. Etwas Ähnliches habe ich in dem Meeresmuseum in Amsterdam gesehen. Dort gab es eine ganze Etage, die holländischen Forschern aus früheren Jahrhunderten gewidmet war, und wo man ihre Funde bewundern konnte.
Ich gehe wieder hinaus, um zwischen den Rosenbeeten zu flanieren. In den Treibhäusern fühle ich mich wie in einem Regenwald und später wie in der Wüste, wo die einzigen Pflanzen Kakteen in verschiedenen Formen sind. Manche sind rund und dick und andere sind sehr hoch und dünn.
Dann gehe ich in eine künstliche Grotte neben einem künstlichen Wasserfall, der in einem künstlichen See endet. Junge Paare mieten kleine Tretboote, und Opas mit ihren Enkeln ziehen Kanus vor. Alle Boote haben Namen von Blumen wie “Lily” oder “Rose” oder “Krokus”. Alle Leute sehen glücklich aus. Ein Paar aus Afrika mit zwei Kindern, deutlich keine Touristen sondern Einwohner, sehen auch glücklich aus.
Die Leute, die in den beiden Restaurants des Palmengartens essen (eins ist teuer, das andere nicht so teuer) sind auch zufrieden mit der Wahl ihres Mittagessens.
Ich glaube, dass ich einen perfekten Rundgang durch den Garten vollendet habe. Ich habe alles gesehen, aber ich will noch nicht gehen. Ich kann ein bisschen länger bleiben. Keine Eile. Ich kann mich auf eine Bank setzen wie dieser alte Herr hier, der seine kurze Siesta genießt. Kein Druck. Na ja, ein bisschen hungrig bin ich vielleicht. Aber es ist nicht wichtig. In meiner Sprache gibt es ein Wort, “koiliodoulos”, welches “Sklave des Magens” bedeutet. Das bin ich nicht.
Irgendwann verlasse ich den Palmengarten und gehe in Richtung Stadtmitte. Heute ist das Zentrum sehr voll. Ich habe Frankfurt in ruhigeren Zeiten gesehen. Mein erster Besuch war vor 25 Jahren. Ich bin älter geworden, ohne mir dessen bewusst zu sein. Ich glaube, das empfindet jeder so. Nur eine Zahl wie diese, 25 Jahre, erinnert uns daran, dass die Zeit schnell vergeht, so schnell wie die Lichtgeschwindigkeit.
Die Zeil ist die lange zentrale Straße mit allen Geschäften in Frankfurt. Einige Straßenmusiker, die wahrscheinlich vom Balkan kommen, spielen Musik, die exotisch klingt. Ja, aber nicht für mich, ich kenne sie schon. Vielleicht klingt das für deutsche Ohren exotisch. Für mich ist es nur laut. Ich gehe in eine Kirche, aber der Lärm verfolgt mich. Sie singen so laut. Ich will eine Kerze anzünden und habe mein Portemonnaie in meiner Hand.
“Schwester, bitte, hilf mir!” Eine kleine Frau mit dunklem Haar ist neben mir und spricht Deutsch. “Ich komme aus Jugoslawien”, sagt sie und dieser Name, früher so bekannt für mich, klingt heute fremd. Jugoslawien gibt es nicht mehr, sage ich zu mir selbst. Ich gebe ihr die Münze, die ich in meiner Hand habe. Sie lehnt es ab. “Nein, Schwester”, sagt sie, “Ich brauche Arbeit. Heute endet meine Aufenthaltsbewilligung, und ich muss ein Haus finden, ich bin Putzfrau, ich muss meine Kinder ernähren”. Sie weint. “Ich bin auch Ausländer hier”, antworte ich. Dann erinnere ich mich, dass dies der Titel eines Buches von Bill Bryson ist. “Woher kommen Sie”? fragt sie. Plötzlich ist ihre Neugierig stärker als ihr Kummer. Aber ich habe keine Lust zu reden. Ich gebe ihr die Münze und ich bin weg.
Die Zeil braust mit Straßenmusikern, mit Touristen und mit Leuten wie mir. Ich bin weder Tourist noch Deutsch. Ich bin weder hier noch dort, laut Bryson. Und diese Frau in der Kirche? Was wäre, wenn sie ihre Geschichte tausend Mal wiederholt hätte? Wenn sie wirklich einen Job brauchte? Dieses “wenn” vergiftet meine gute Tat. Dass ich den Verdacht habe, dass sie eine Profi Bettlerin ist, macht meine Geste zunichte. Ich schäme mich. Aber damals, als ich in Griechenland aufgewachsen bin, habe ich viele Zigeuner gesehen, die so lebten. Als Bettler. Eine andere innere Stimme sagt mir, nicht zu fragen warum sie es geworden sind.
Frankfurt heute ist New York Revisited. Nach dem Krieg war Frankfurt von den Amerikanern “occupied”. Die Stadt stand unter ihrem Einfluss und ihrer Kontrolle. Die deutschen Bewohner waren oft belästigt von der Anwesenheit der Amis und haben ihre Stadt ironisch “the most European of all American cities” genannt. Auch weil Frankfurt viele Hochhäuser hat, so wie Manhattan. Frankfurt ist auch “Mainhattan” weil sein Fluss der Main ist. Zur Zeit ist die Stadtmitte wieder “occupied” von einer Bewegung gegen die Banken.
Aber die Zeil ist schön, voll mit jungen Leuten, die in großen Läden einkaufen. Hier kann man auch Obdachlose und Drogensüchtige sehen und manche Punks, die auf dem Boden mit ihren hungrigen, schmutzigen Hunden sitzen. Diese Hunde hatten sicher bessere Tage in der Vergangenheit erlebt.
Ich gucke mich um und kann die Stadt nicht erkennen. Sie sieht aus wie jede andere globalisierte Stadt in der Welt. Mit langweiligen schnellen Restaurantketten, mit billigen Kleidungsläden, die alle gleich sind in Europa, in America und vielleicht auch in China.
Mein Zynismus kommt wahrscheinlich von so vielen Reise um die Welt. Ich bin so viel gereist und habe so viele Orte gesehen. Ich bin älter geworden. Und ich bin auch Ausländer hier.
Aber Frankfurt ist nicht nur die Zeil. Diese Stadt hat so viele interessante, schöne Sehenswürdigkeiten. Man muss alles entdecken. Und ich möchte mehr über Frankfurt schreiben, mehr Empfehlungen geben.
Übersetzt von Marion Schulz-Gahmen